Die wirtschafts- und sozialpolitische Neuausrichtung Ungarns seit dem Jahr 2010 markiert eine der markantesten politischen Transformationen innerhalb der Europäischen Union. Aus einem ehemals krisengeschüttelten Land, das während der Finanzkrise gemeinsam mit Griechenland als „Pleitekandidat“ gehandelt wurde, entwickelte sich ein Staat, der heute mit selbstbewusster Reformpolitik auf europäischer Ebene mitreden will.
Ein Staat am Abgrund – und der politische Bruch
Rückblickend stellt sich das Jahr 2008 als absoluter Tiefpunkt dar. Ungarn war mit einer ausufernden Staatsverschuldung, massiver Arbeitslosigkeit und dem Verlust fiskalischer Kontrolle konfrontiert. Der damalige sozialistische Ministerpräsident Gyurcsány wurde durch eine berüchtigte Rede bekannt, in der er einräumte, Budgetzahlen frisiert und die Bevölkerung bewusst getäuscht zu haben. Ein beispielloser Vertrauensverlust gegenüber der politischen Klasse folgte. Proteste brachen aus, das internationale Vertrauen schwand. Die Regierung musste ein IWF-Hilfspaket in Höhe von 20 Milliarden Euro annehmen – ein symbolträchtiges Ausgeliefertsein des Landes.
Die makroökonomische Wende: Daten und Dynamiken
Seit dem Regierungswechsel im Jahr 2010 hat sich die makroökonomische Landschaft Ungarns in bemerkenswerter Weise gewandelt. Über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren gelang es der Regierung, zentrale wirtschaftliche Kennzahlen auf ein neues Niveau zu heben – ein Befund, der auch im internationalen Vergleich zunehmend Beachtung findet. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das 2010 noch bei 13.177 US-Dollar lag, konnte bis zum Jahr 2023 auf beachtliche 22.160 US-Dollar gesteigert werden – ein Wachstum, das nicht nur wirtschaftspolitische Weichenstellungen, sondern auch die langfristige Stabilität des Landes widerspiegelt (Quelle: Zentrales Statistikamt Ungarns, vgl. https://www.ksh.hu/stadat_files/gdp/hu/gdp0005.html). Parallel dazu stieg die Zahl der Beschäftigten von 3,7 Millionen auf 4,8 Millionen an – eine Entwicklung, die mit einem Rückgang der Arbeitslosenquote von 12,5 Prozent auf nur noch 4 Prozent einherging (Quelle: Zentrales Statistikamt Ungarns). Besonders markant ist der Anstieg der steuerzahlenden Bevölkerung: Waren es 2010 noch 2,7 Millionen Menschen, die zur Finanzierung des Gemeinwesens beitrugen, so sind es 2025 über 4,8 Millionen – ein Indikator nicht nur für eine wachsende Erwerbsbasis, sondern auch für die gestiegene gesellschaftliche Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes (Quelle: Zentrales Statistikamt Ungarns). Diese Zahlen verdeutlichen, dass die ungarische Wirtschaftspolitik nicht nur auf Konsolidierung, sondern auch auf strukturelle Breitenwirkung setzt – und damit ein makroökonomisches Profil gezeichnet hat, das zunehmend als eigenständiges Modell innerhalb Europas wahrgenommen wird. Diese fiskalische Stabilisierung wurde durch gezielte Steuerreformen ermöglicht. So wurde die progressive Einkommensbesteuerung durch eine Flat Tax von zunächst 16 %, später 15 % ersetzt. Obwohl der Mindestlohn inzwischen besteuert wird, wurde er kontinuierlich angehoben – eine Entwicklung, die dazu beitrug, dass diese Maßnahme in der Bevölkerung als gerecht und nachvollziehbar empfunden wird. Neben des spürbar gestiegenen Gehältern wurde der Mindestlohn von 36% des Durchschnittsgehalts (2010) auf 45% im Jahr 2025 angehoben.
Vier Grundpfeiler der Erneuerung
Seit dem Regierungsantritt im Jahr 2010 verfolgt die ungarische Regierung eine wirtschaftspolitische Linie, die sich durch bemerkenswerte Kohärenz und strategische Stringenz auszeichnet. Vier zentrale Strukturprinzipien bilden dabei das Fundament der wirtschaftlichen Neuausrichtung des Landes. An erster Stelle steht das Primat politischer Stabilität – verstanden nicht nur als Ordnungskriterium, sondern als essenzielle Voraussetzung für langfristige Planbarkeit und Vertrauen in ökonomisches Handeln. Dieser Stabilitätsansatz wird flankiert von einer disziplinierten Haushaltsführung, die sich symbolisch in der Figur der „sparenden schwäbischen Hausfrau“ verdichtet – einem Bild, das in Ungarn bewusst als positive Referenz für fiskalische Verantwortung genutzt wird. Das dritte Prinzip, die Idee einer „Workfare-economy“, formuliert einen normativen Anspruch an die Gesellschaft: Staatliche Leistungen sollen nicht passiv konsumiert, sondern durch aktive Teilhabe am Arbeitsmarkt legitimiert werden. Erwerbstätigkeit wird so zum Schlüsselbegriff eines wohlfahrtsstaatlichen Paradigmenwechsels. Schließlich setzt Ungarn mit der steuerlichen Neugestaltung – etwa durch die Einführung der Flat Tax und eine umfassende Vereinfachung des Steuerrechts – auf ein transparentes, wachstumsförderndes Abgabensystem, das Anreize schafft, Eigenverantwortung stärkt und bürokratische Hürden abbaut. Zusammen formen diese vier Grundsätze eine wirtschaftspolitische Architektur, die bewusst einen eigenständigen Weg im europäischen Kontext markiert.
Von der Krise zur fiskalischen Souveränität
Die wirtschaftspolitischen Erfolge sind, wie zuvor erläutert, beachtlich. Des Weiteren konnte die Staatsverschuldung von über 80 % auf aktuell etwa 74 % des BIP reduziert werden – was noch keinen zufriedenstellenden Wert darstellt – jedoch mit dem Ziel, mittelfristig unter 60 % zu sinken (Quelle: International Monetary Fund, World Economic Outlook Database, Oktober 2024). Dabei wurden gezielt Maßnahmen getroffen, um das Steueraufkommen zu stabilisieren: Die Flat Tax hat durch ihre Einfachheit nicht nur die Steuermoral verbessert, sondern auch den Schwarzmarkt eingedämmt. Durch die oben genannte Kombination aus Anhebung und Besteuerung des Mindestlohns konnte die Regierung zusätzlich etwa 900.000 Arbeitskräfte in die Finanzierung des Staates einbinden.
Verwaltungsumbau und digitale Erleichterung
Parallel zu dieser strategischen Neuausrichtung wurde der ungarische Verwaltungsapparat tiefgreifend reformiert. Genehmigungsverfahren für Bauprojekte wurden so vereinfacht, dass bei ausbleibender Bearbeitung nach 15 Tagen eine automatische Baugenehmigung als erteilt gilt. Auch die Digitalisierung hat sichtbare Effekte: Mit einem einzigen Zugang zum staatlichen E-Portal lassen sich zum Beispiel neben vielen anderen Funktionen Grundbuchauszüge erstellen, Führerscheine verlängern oder Steuererklärungen automatisiert verwalten. Das Finanzamt erstellt die Steuererklärung für den Bürger. Dieser muss nur noch etwaige Korrekturen (etwa zusätzliche Einkünfte) einarbeiten, alles geschieht online. Der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen ist damit nicht nur effizienter, sondern auch deutlich bürgernäher geworden: Personalausweise und Führerscheine werden innerhalb von wenigen Tagen ausgestellt, Behördentermine werden online vergeben.
Automobilstandort mit globaler Verflechtung
Die Bedeutung der deutschen Automobilindustrie für die ungarische Volkswirtschaft bleibt hoch. Alle drei großen deutschen Premiumhersteller – Audi, Mercedes-Benz und BMW – sind mit Produktionsstandorten vertreten. Die ungarische Regierung hat deren Ansiedlung aktiv gefördert und versteht sich als verlässlicher Partner, auch in Brüsseler Verhandlungen. Als es um das umstrittene Verbrenner-Aus ging, setzte sich Budapest auf Bitten deutscher Konzerne auf europäischer Ebene für eine industriefreundlichere Lösung ein. Gleichzeitig profitiert Ungarn von der Dynamik der Elektromobilität. Es entstehen neue Wertschöpfungsketten: Chinesische Batterien werden in ungarischen Fabriken verbaut, die teilweise mit russischer Energie betrieben werden. Diese Form der pragmatischen Industriepolitik – losgelöst von ideologischer Blockbildung – wird in Ungarn als Erfolgsmodell verstanden. Die Investitionsentscheidung von BYD, in Szeged einen neuen Standort zu errichten, unterstreicht die Attraktivität des Landes. Ungarns Wirtschaftspolitik strebt keine Konvergenz im Sinne europäischer Einheitsmodelle an, sondern setzt auf funktionale Eigenlogik, Standortvorteile und internationale Vernetzung.
Unabhängigkeit durch Konnektivität: Außenwirtschaftspolitische Neuorientierung
Ungarn strebt eine wirtschaftspolitische Strategie an, die nicht auf Blockbildung, sondern auf Konnektivität basiert. Die ungarische Regierung betont die Notwendigkeit strategischer Autonomie Europas, etwa unabhängig davon, „wer im Weißen Haus sitzt“. Ungarn pflegt daher wirtschaftliche, diplomatische und zivilgesellschaftliche Beziehungen mit einer Vielzahl globaler Akteure – ohne moralischen Überlegenheitsgestus, sondern im Sinne pragmatischer Interessenpolitik. In diesem Kontext steht auch das Verhältnis zu China: Budapest strebt keine ideologische Auseinandersetzung an, sondern einen funktionalen Dialog. Ungarn wolle den Chinesen nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben – und erwarte dies auch umgekehrt. Die Außenpolitik des Landes versteht sich als vernunftgeleitet und abgrenzend gegenüber normativ aufgeladenen Konzepten wie einer „feministischen Außenpolitik“.
Steuergerechtigkeit und Familienförderung als Leitlinien ungarischer Sozialpolitik
Die wirtschafts- und sozialpolitische Neuausrichtung Ungarns in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten lässt sich nicht ohne die konsequente Reform des Steuer- und Familienrechts verstehen. Im Zentrum steht ein steuerpolitisches Modell, das auf radikale Vereinfachung und systematische Entlastung setzt. Gepaart mit einer an Erwerbstätigkeit geknüpften Familienpolitik ergibt sich eine wohlfahrtsstaatliche Architektur, die gezielt Anreize schafft – zur Arbeitsaufnahme, zum Kinderkriegen und zur steuerlichen Teilhabe.
Mit der Einführung einer Flat Tax auf alle Einkommen hat Ungarn ein markantes Gegenmodell zur in Westeuropa überwiegenden progressiven Besteuerung etabliert. Dieses System gilt für Arbeitseinkommen ebenso wie andere Einkommen, etwa Mieteinkünfte. Die Steuerlast ist damit nicht nur einfacher zu berechnen, sondern auch transparenter und nachvollziehbarer.
Der politische Ursprung dieser Idee liegt bemerkenswerterweise nicht im konservativen Lager. Die sozialdemokratische SZDSZ hatte die Flat Tax bereits im Wahlkampf 2006 gefordert, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Erst unter der FIDESZ-Regierung wurde das Modell ab 2010 umgesetzt. Diese politische Offenheit gegenüber Ideen der Opposition verweist auf einen ungarischen Pragmatismus, der Reformpolitik nicht als ideologische Abgrenzung, sondern als Lösungsinstrument versteht.
Die Folge: Die Steuerberaterbranche verlor an Bedeutung, der Schwarzmarkt wurde zurückgedrängt, und in der Bevölkerung wuchs das Gefühl von Steuergerechtigkeit. Auch Geringverdiener, etwa im Mindestlohnbereich, wurden in das Steuersystem integriert. Dies fördert nicht nur die fiskalische Solidarität, sondern auch das Zugehörigkeitsempfinden gegenüber dem Staat. Steuerzahlung wird als staatsbürgerliche Partizipation verstanden.
Ungarns Familienpolitik im Zeichen fiskalischer Anreize und gesellschaftlicher Verantwortung
Die ungarische Familienpolitik der letzten Jahre steht paradigmatisch für eine steuerzentrierte Sozialpolitik, die sich klar vom westeuropäischen Trend staatlicher Transferleistungen abgrenzt. Statt einer universellen Grundsicherung nach deutschem Vorbild – etwa in Form eines Bürgergeldes – verfolgt die ungarische Regierung ein auf Erwerbsanreize und Steuerentlastungen ausgerichtetes Konzept, das vor allem junge Familien und Frauen im erwerbstätigen Alter gezielt adressiert. Im Zentrum dieser Politik steht die Leitidee, dass Kinderkriegen nicht zu einem sozialen oder ökonomischen Nachteil führen darf.
Zwar existiert auch in Ungarn ein klassisches Kindergeld, dessen Höhe jedoch seit Jahren nicht signifikant angepasst wurde. Doch dieser Aspekt tritt hinter die Vielzahl steuerlich kodifizierter Maßnahmen zurück, die für Eltern und insbesondere für junge Mütter eine erhebliche materielle Besserstellung bewirken. Das ungarische Modell steht damit für einen Paradigmenwechsel: Familienpolitik als integraler Bestandteil der Steuer- und Arbeitsmarktpolitik.
Ein zentrales Element bildet das Mutterschaftsgeld (CSED), das im Zeitraum der ersten 168 Tage nach Geburt des Kindes 100 Prozent des Bruttoeinkommens auszahlt. Es fallen keine Sozialversicherungsgebühren an, so dass das Mutterschaftsgeld etwa 28% höher ist als das zuvor bezogene Gehalt. Ab Juli 2025 wird auch die Einkommenssteuer entfallen, so dass die Mutter das Geld brutto für netto bekommt (Steigerung gegenüber zuletzt bezogenem Einkommen um etwa 50%). Dieses Modell ist nicht nur fiskalisch attraktiv, sondern vermittelt symbolisch die Haltung des Staates: Familiengründung soll nicht nur nicht benachteiligt, sondern aktiv honoriert werden. Die „CSED“ wird ergänzt durch das sogenannte Kindesbetreuungsgeld (GYED), das ab dem 168. Tag ab Geburt bis zum 24. Lebensmonat des Kindes in Höhe von 70 Prozent des vorherigen Bruttoeinkommens ausgezahlt wird, maximal etwa 930 Euro. Entscheidend ist dabei die Vereinbarkeit mit Erwerbsarbeit: Wer nach dem 168. Tag ab Geburt des Kindes wieder in den Beruf einsteigt, erhält das reguläre Gehalt und parallel das Betreuungsgeld zusätzlich, erfährt also ein Zusatzeinkommen von 930 Euro.
Hinzu kommt mit dem GYES eine weitere Transferleistung, die bei niedrigem Betrag (rund 100 Euro monatlich) dennoch versicherungsrechtliche Kontinuität sichert. Ergänzt wird das Gesamtmodell durch explizite Steuerbefreiungen: So sind Frauen unter 30 Jahren, die ein Kind zur Welt gebracht haben, von der Einkommenssteuer befreit. Ab Oktober 2025 soll diese Regelung bereits ab dem dritten Kind für das gesamte Erwerbsleben gelten – eine Ausweitung der bisherigen Regelung, die diesen Vorteil erst ab dem vierten Kind vorsah. Die Kinderzahl wirkt sich auch direkt auf die Steuerlast aus: Familien mit bis zu drei Kindern können monatlich bis zu 100.000 Forint (etwa 250 Euro) an Steuern sparen, ab 2026 steigt dieser Betrag auf 200.000 Forint (etwa 500 Euro).
Flankierend zur fiskalischen Entlastung wurde der Bereich der vorschulischen Betreuung umfassend reformiert. Kita-Plätze stehen ab dem dritten Lebensjahr verpflichtend zur Verfügung und kosten zwischen 20 und 30 Euro pro Monat. Bereits ab der 24. Lebenswoche können Kinderkrippen in Anspruch genommen werden. Auch hier zeigt sich der funktionale Anspruch der Regierung: Infrastruktur und Steuerrecht sollen nahtlos ineinandergreifen, um Erwerbsbiografien nicht zu unterbrechen. Die Familienpolitik wird dabei zum Teil eines größeren gesellschaftspolitischen Narrativs: Junge Menschen unter 25 Jahren zahlen keine Einkommenssteuer; Führerschein und Theorieprüfung sind bis zum 20. Lebensjahr kostenlos. Ergänzt wird dies durch ein umfassendes Babydarlehenssystem: Familien erhalten ein zinsgünstiges Darlehen in Höhe von ca. 25.000 Euro, das bei Geburt von bis zu drei Kindern stufenweise erlassen wird. Voraussetzung ist, dass die Kinder nach Darlehensaufnahme geboren werden.
Darüber hinaus zeigt sich der ungarische Ansatz in einer breiteren steuerpolitischen Architektur. So wurde die Körperschaftssteuer im Jahr 2017 von 19 auf 9 Prozent gesenkt – der niedrigste Satz in der gesamten Europäischen Union. Analog zur Flat Tax bei der Einkommenssteuer zeigt sich auch hier: Niedrigere Steuersätze bedeuten nicht zwingend geringere Einnahmen. Vielmehr stiegen die Steuereinnahmen durch die zunehmende Formalisierung der Wirtschaft und steigende Investitionen. Die Eigentümerquote bei Immobilien liegt in Ungarn bei rund 98 Prozent – Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses, dass privates Eigentum die beste soziale Absicherung bietet.
Allerdings bleibt ein Wermutstropfen: Ungarn hat den höchsten Mehrwertsteuersatz Europas. Diese Verbrauchssteuer orientiert sich an der Idee, nicht nur Einkommen, sondern auch Konsum zu besteuern – mit dem Ziel, Anreize zum Sparen zu setzen und die nationale Sparquote zu erhöhen. Parallel dazu wurden Verbrauchssteuern auf Alkohol, Tabak und Kraftstoffe angehoben. Auch die Einführung gezielter Steuern auf gesundheitsschädliche Produkte wie Chips zielt auf eine Verhaltenssteuerung durch fiskalische Lenkung.
Grundnahrungsmittel hingegen sind steuerlich begünstigt. Zudem bestehen sektorale Sondersteuern, etwa für Banken, Telekommunikation oder internationale Einzelhandelsketten – fiskalpolitische Maßnahmen, die ursprünglich zur Haushaltssanierung eingeführt wurden und sich seither als stabilisierende Einnahmequelle etabliert haben.
Die ungarische Kombination aus Flat Tax und selektiver Familienförderung verfolgt ein konsistentes Leitbild: Wer arbeitet, soll nicht nur gerecht, sondern auch verstärkt belohnt werden. Wer Kinder großzieht, soll dafür nicht benachteiligt, sondern erkennbar entlastet werden. Die ungarische Familien- und Steuerpolitik fügt sich somit in ein kohärentes Modell, das fiskalische Effizienz, demografische Resilienz und gesellschaftliche Kohäsion verbinden will. In dieser Logik ist es keine bloße Umverteilung, sondern Ausdruck eines sozialstaatlichen Leistungsversprechens, das auf Eigenverantwortung, Erwerbsintegration und Zukunftsorientierung setzt.
Ungarns Arbeitsmarktpolitik und die Dynamik ausländischer Investitionen: Strategien, Erfolge, Herausforderungen
Seit dem Regierungsantritt der FIDESZ im Jahr 2010 verfolgt Ungarn einen konsequenten Kurs zur Reindustrialisierung und zur aktiven Positionierung auf globalen Kapitalmärkten. Im Zentrum dieser Strategie steht einerseits die gezielte Steuerung ausländischer Direktinvestitionen (FDIs), andererseits ein tiefgreifender Umbau der Arbeitsmarktpolitik mit dem erklärten Ziel, Vollbeschäftigung zu erreichen. Diese wirtschaftspolitische Doppelstrategie – Attraktivität für Investoren und Mobilisierung der eigenen Arbeitskraftreserve – bildet seither das Rückgrat der ungarischen Wachstumsdynamik mit einer gezielten Ansiedlungsstrategie ausländischer Direktinvestitionen, die mit tiefgreifendem Verwaltungsumbau und infrastrukturellem Modernisierungswillen einhergeht. Diese Faktoren bilden heute das Fundament eines ungarischen Wirtschaftsmodells, das sich selbstbewusst zwischen deutschen Industriebeziehungen, asiatischen Kapitalströmen und europapolitischen Eigeninteressen positioniert.
Von 2010 bis 2024 haben sich die FDIs in Ungarn verfünffacht. Deutschland, über Jahrzehnte der mit Abstand wichtigste Investor und traditioneller Partner im Bereich der Automobilindustrie, wurde in dieser Phase zunehmend von Akteuren aus Asien überholt. Insbesondere der Dieselskandal war ein Weckruf: Ungarn erkannte die Risiken einseitiger Abhängigkeit von einem einzelnen Industriezweig. Infolgedessen wurden politische und infrastrukturelle Maßnahmen gesetzt, um auch Investitionen aus anderen Teilen der Welt gezielt anzuziehen. China nimmt dabei eine dominierende Rolle ein. Mit 5,5 Milliarden US-Dollar flossen 44 Prozent aller chinesischen FDIs in der Europäischen Union nach Ungarn – ein klares Signal für die neue geopolitische Vernetzung Budapests. Südkorea folgt mit 2,8 Milliarden, Polen mit rund 1,97 Milliarden US-Dollar. Deutschland hingegen fällt mit einem Volumen von weniger als einer Milliarde deutlich zurück. Die Zahlen dokumentieren eine strukturelle Verschiebung der Investitionsflüsse – nicht als Abkehr vom Westen, sondern als strategische Erweiterung des wirtschaftlichen Radius. Die Kurve des FDI-Zuflusses zeigt einen stabilen Anstieg über die Jahre, unterbrochen lediglich durch einen temporären Rückgang in den Jahren 2015/2016. Diese Attraktivität verdankt Ungarn nicht nur seiner geographischen Lage, sondern vor allem seiner aktiven Wirtschaftspolitik: niedrige Steuersätze, gezielte Branchenförderung, Infrastrukturentwicklung und ein stetiger Bürokratieabbau setzen die richtigen Anreize.
Parallel dazu wurde der Arbeitsmarkt grundlegend umgestaltet. Bereits in der Regierungserklärung von 2010 war das ambitionierte Ziel formuliert: die Schaffung von einer Million neuen Arbeitsplätzen. Damals zählte man rund 3,7 Millionen Erwerbstätige, von denen lediglich 2,7 Millionen steuerpflichtig beschäftigt waren. Bis 2020 stieg diese Zahl auf 4,7 Millionen – für 2025 wird ein weiterer Anstieg auf 4,8 Millionen prognostiziert. Heute zahlt jede beschäftigte Person in Ungarn Steuern – ein Ausdruck der fiskalischen Breitenwirkung der Reformen.
Prinzipien der „Workfare-Gesellschaft“
Herzstück der Arbeitsmarktpolitik ist das Prinzip der „Workfare“-Gesellschaft: Wer staatliche Leistungen in Anspruch nehmen möchte, muss sich aktiv an Arbeitsbeschaffungsprogrammen beteiligen. Wer mehr als drei zumutbare Arbeitsangebote ablehnt, muss mit spürbaren Sanktionen rechnen. Zudem wurde die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld deutlich verkürzt. Diese Maßnahmen, zunächst von Opposition und Teilen der Öffentlichkeit kritisiert, werden mittlerweile auch aus anderen politischen Lagern als potenzielles Erfolgsmodell zur Integration Langzeitarbeitsloser diskutiert.
Die Praxis zeigt: Wer einst zur gemeinnützigen Arbeit – etwa in Form von Unkraut jäten oder Malerarbeiten – herangezogen wurde, findet heute vielfach eine Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt. Ungarn verfolgt dabei eine normative Vorstellung von Arbeit: Sie soll nicht nur ökonomisch tragen, sondern auch identitätsstiftend und gesellschaftlich integrierend wirken. Die Erwerbstätigenquote liegt inzwischen bei rund 80 Prozent. Besonders bemerkenswert ist der Anstieg bei bisher benachteiligten Gruppen: Sowohl die Erwerbsquote von Frauen als auch jene der Roma-Bevölkerung ist gestiegen. Eine Besonderheit zeigt sich dabei beim zeitgleichen Anstieg der weiblichen Erwerbsquote und der Geburtenrate – eine Entwicklung, die auf das abgestimmte Zusammenspiel von Arbeitsmarkt- und Familienpolitik zurückzuführen ist und wohl weltweit als einmalig gelten kann.
Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Beschäftigungsrate seit 2010 kontinuierlich gestiegen ist. Zwar liegt Tschechien in dieser Hinsicht noch leicht vor Ungarn, doch die Slowakei und auch Polen wurden mittlerweile überholt. Die Orientierung an den Visegrád-Staaten (V4) bleibt dabei eine zentrale Benchmark ungarischer Arbeitsmarktpolitik. Diese positiven Entwicklungen werden flankiert von einer deutlich gesunkenen Kriminalitätsrate – ein Rückgang von 60 Prozent innerhalb von 15 Jahren. Einst als unsicher geltend, gilt Ungarn heute als eines der sichereren Länder Europas. Diese objektive wie subjektive Sicherheit zieht zunehmend auch ausländische Siedlungswillige an: Insbesondere deutsche Staatsbürger erkennen in Ungarn eine neue Lebensperspektive. Mit einem Budget von 80.000 bis 100.000 Euro lässt sich auf dem Land ein Eigenheim realisieren – ein Traum, der in vielen Regionen Deutschlands kaum mehr bezahlbar scheint. Zudem profitiert Ungarn von den europaweit niedrigsten Energiepreisen für Privatverbraucher. Dieser Umstand, kombiniert mit steuerlicher Planungssicherheit und infrastrukturellem Ausbau, macht das Land nicht nur für Investoren, sondern auch für ausländische Fachkräfte zunehmend attraktiv. Die Wirtschaftspolitik der FIDESZ zielt auf Prosperität durch Arbeit, Investitionen und nationale Handlungsfähigkeit – ein Modell, das seine Stabilität bislang unter Beweis gestellt hat.
Ungarns wirtschaftspolitische Parallelen zur Agenda der CDU/CSU: Eine vergleichende Analyse
Die politischen Debatten um die ökonomische Zukunft Europas werden längst nicht mehr nur national geführt. In einem zunehmend vernetzten wirtschaftlichen Raum lohnt es sich, politische Konzepte auch jenseits der eigenen Landesgrenzen zu betrachten. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Deutschland und Ungarn, das sich nicht nur durch enge wirtschaftliche Verflechtungen, sondern auch durch erkennbare konzeptionelle Überschneidungen in zentralen wirtschaftspolitischen Fragen auszeichnet. Besonders augenfällig wird dies im Lichte des sogenannten 12-Punkte-Wirtschaftsplans der CDU/CSU aus dem Februar 2024, der explizit auf strukturelle Entlastungen, Steuervereinfachung und investitionsfreundliche Rahmenbedingungen zielt – Prinzipien, die in Ungarn bereits seit über einem Jahrzehnt zur wirtschaftspolitischen DNA gehören.
So forderte Oppositionsführer Friedrich Merz unter anderem eine Begrenzung der Sozialabgaben auf 40 Prozent des Bruttolohns, um Unternehmen größere Spielräume für Investitionen zu ermöglichen. Ungarn liegt mit einem Sozialabgabensatz von lediglich 18,5 Prozent deutlich unter diesem Zielwert und gilt damit als Vorbild für investitionsfreundliche Lohnnebenkosten.
Auch in der Frage der Arbeitsmarktpartizipation älterer Generationen bestehen klare Parallelen: Während die CDU/CSU vorschlägt, Rentnern bis zu 2000 Euro monatlich steuerfrei zu gestatten, ohne ihre Rente zu gefährden, hat Ungarn den Arbeitsmarkt längst auch für Pensionierte geöffnet. Diese sind von Sozialabgaben befreit, was einen zusätzlichen Anreiz zur Weiterarbeit im Ruhestand schafft – sowohl aus unternehmerischer als auch aus fiskalischer Sicht ein Gewinn.
Ein weiterer zentraler Punkt im CDU/CSU-Programm betrifft die Aktivierung von Langzeitarbeitslosen: Wer Bürgergeld bezieht, soll zur Annahme zumutbarer Arbeit verpflichtet sein – ansonsten drohen Leistungskürzungen. Diese arbeitsmarktpolitische Stringenz ist in Ungarn seit Jahren Realität: Nach maximal drei Monaten Arbeitslosengeld besteht die Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit. Die ungarische „Workfare“-Politik zielt damit auf gesellschaftliche Integration durch Beschäftigung und Selbstverantwortung.
Auch bei der Frage der steuerlichen Entlastung von Unternehmen setzt Ungarn Maßstäbe. Während sich der Vorschlag der Union auf die allgemeine Reduktion der Steuerlast für Unternehmen bezieht, ist dies in Ungarn längst Praxis. Energie wird seit 2013 steuerlich begünstigt, gleichzeitig sorgt eine staatliche Preisdeckelung in Kombination mit Atomkraft (46 Prozent Anteil an der Stromerzeugung) und Solarenergie (etwa 13 Prozent) für die niedrigsten Energiepreise innerhalb der EU – ein massiver Standortvorteil.
Weitere strukturelle Ähnlichkeiten zeigen sich im Bereich der Arbeitszeitmodelle: Der sogenannte „Munkaidőkeret“ erlaubt es ungarischen Unternehmen, Arbeitszeiten zwischen vier und zwölf Stunden flexibel zu gestalten, solange diese innerhalb eines Viermonatszeitraums ausgeglichen werden. Diese Flexibilisierung entspricht in etwa den Forderungen der CDU nach einer neuen Definition der Arbeitszeit.
Im Bereich der Bau- und Planungspolitik geht Ungarn sogar noch weiter als die Vorschläge aus Berlin: Während die CDU/CSU fordert, dass Bauanträge bei ausbleibender Ablehnung automatisch genehmigt werden sollen, ist dies in Ungarn bereits geltendes Recht – mit einer festgelegten Frist von 15 Tagen. Auch in anderen Feldern wie dem Stopp des Lieferkettengesetzes, dem Bürokratieabbau sowie der Entlastung landwirtschaftlicher Betriebe bewegt sich Ungarn längst auf der Linie, die konservative Kräfte in Deutschland erst anstreben.
Einziger noch nicht umgesetzter Punkt ist die steuerliche Freistellung von Überstunden. Doch auch hier ist die politische Diskussion in Ungarn im Gange. Der systematische Vergleich zeigt somit: Die ungarische Wirtschaftspolitik bietet nicht nur ein praxisbewährtes Modell für konservative Steuer- und Arbeitsmarktpolitik, sondern fungiert zunehmend auch als Benchmark im europäischen Diskurs. In einer Zeit, in der ökonomische Effizienz und soziale Kohärenz neu austariert werden müssen, lohnt ein genauerer Blick auf das, was andernorts bereits Wirklichkeit ist.
Der Artikel basiert auf einem frei gehaltenen Vortrag von Institutsdirektor Bence Bauer am 20. März 2025 bei der Union Stiftung in Saarbrücken.