Am Abend des 10. Februar 2025 läutete das Deutsch-Ungarische Institut für Europäische Zusammenarbeit sein Veranstaltungsjahr 2025 mit einem Fachvortrag am MCC-Bildungszentrum in Budapest ein. Der Vortrag mit dem Titel „Ernst Jünger und seine Zeit“ wurde von Prof. Dr. Helmuth Kiesel, Professor Emeritus für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Heidelberg, gehalten. Moderator des Abends war Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz. Das eröffnende Grußwort sprach Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts. Die Veranstaltung fand in deutscher Sprache mit Simultanübersetzung ins Ungarische statt und wurde von etwa 70 Gästen besucht.
Kiesel ist ein ausgewiesener Experte für deutschsprachige Literaturgeschichte der Zwischenkriegszeit zwischen 1918 und 1945. Insbesondere bekannt ist er auch für seine umfassende und renommierte Ernst Jünger-Biographie aus dem Jahr 2007. Kaum ein anderer deutscher Literaturwissenschaftler dürfte Jünger wohl so intensiv studiert haben wie er. Jünger, der von 1895 bis 1998 lebte und stolze 102 Jahre alt wurde, prägte die deutsche Literaturgeschichte für einen langen Zeitraum im 20. Jahrhundert. Seine wohl wichtigste Schaffensphase, in jedem Fall aber seine am kontroversesten diskutierte, fiel jedoch in die Zwischenkriegszeit. Mit Titeln wie „In Stahlgewittern“ oder in der Zeit nach 1945 „Heliopolis“ erlangte er weit über Deutschland hinaus internationale Bekanntheit und Verbreitung. Seine Texte wurden ästhetisch, aber auch politisch diskutiert, am heftigsten in seinem Heimatland Deutschland. Kiesel selbst nannte ihn den „umstrittensten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“.
Jünger galt vielen als „protofaschistisch“ und als „geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus“. Besonders seine Kriegsbücher wie „In Stahlgewittern“ widerspiegelten für viele einen nationalistischen und heldischen Gedanken, der die Gewalt verherrlichen und die Männlichkeit in Form des Kriegers idealisieren würde. So wurden nach dem Krieg zahlreiche Bücher Jüngers in Deutschland indiziert, Jünger selbst lange Zeit mit einem Publikationsverbot belegt. Jünger indes wehrte sich zeitlebens gegen die Vorwürfe, Mitschuld am NS-Faschismus zu tragen. In seinem Werk „Strahlungen“ schrieb er 1949:
„Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, wenn man nicht zu den Primitiven zählen will.“
Jünger ausschließlich als Wegbereiter des Nationalsozialismus zu bezeichnen, würde in jedem Fall zu kurz führen. Kiesel betonte, dass Jünger weder den Rassismus noch den Revanchismus und Expansionismus der Nationalsozialisten bediente. Auch seine nationalistische Perspektive habe sich bald zu einer planetarischen gewandelt. Mit seismographischem Gespür habe er weiterhin die gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit festgehalten. Mit „antaiischer Beunruhigung“ habe Jünger später auch die Folgen dieser technokratischen und planetarischen Wandlungen, so etwa der Erderwärmung, behandelt.
Sein Schriftwerk beweist ferner literarische Qualität. Er verfasste nicht nur Kriegserlebnisbücher und politische Literatur, sondern zahlreiche phantastische Romane und Reiseberichte, beschäftigte sich auch mit unkonventionellen Themen wie Drogenerfahrungen und Zukunftstechnologien, schrieb lange vor deren Verwirklichung über Konzepte wie Raumfahrt, Mobiltelefone, Roboter oder Nanotechnologie. 1982 wurde Jünger mit dem Goethepreis ausgezeichnet. Sein Werk, so resümierte Kiesel, zeige die „Geschichte des 20. Jahrhunderts im Horizont der Weltgeschichte“.
Im Anschluss an den Vortrag folgte eine Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll. Diese drehte sich um die Perzeption von Jüngers Werk und seiner Rolle im Nationalsozialismus, seine Haltung zur Demokratie und zum Faschismus bzw. zum Kollektivismus sowie die Phasen und den Kern seines literarischen Schaffens. Ferner kam Jüngers Distanzierung von den Nationalsozialisten bereits in den Dreißigerjahren zur Sprache. Fragen aus dem Publikum rundeten den Abend ab.